Doping freigeben? – Wissenschaftler auf Abwegen

Der Spitzensport befindet sich durch die Dopingproblematik in einer Legitimationskrise. Vor diesem Hintergrund stellt Robert Gugutzer in seinem Artikel „Doping im Spitzensport der reflexiven Moderne“ die These auf, dass erst die öffentlichen Diskurse, in denen Doping als Problem wahrgenommen und definiert wird, das Dopingproblem hervorgebracht haben und es am Leben halten.

Sein Vorschlag lautet: Weniger über Doping Reden, die Beschwörungen des Mythos vom „sauberen Sport“ einstellen und alle Anti-Doping Kampagnen zurückfahren. Spitzensport ohne Doping sei heute nicht mehr denkbar, dies müsse man anerkennen und nach radikal neuen Konzepten suchen, die von der kontrollierten Freigabe mit Medikamentenpass bis zur kompletten Dopingfreigabe reichen können.

Im Folgenden wird der Gedankengang Gugutzers rekapituliert und gezeigt warum er zwar die richtige Diagnose stellt, seine Lösungsvorschläge aber irren.

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Doping und die Natürlichkeitsfiktion des Sports

Die Mär vom „sauberen Sport“ ist fundamental wichtig für den guten Ruf des Spitzensports, da dieser von staatlichen Förderleistungen, Sponsorengeldern, Medienberichterstattung und großem Publikumsinteresse abhängt. Nichts schadet daher mehr als Berichte über zwielichtige Ärzte, die die Athleten mit Epo Blutkonserven, Amphetaminen und jeder erdenklichen Verschleierungsmethode die Erreichung von immer neuen Rekorden ermöglichen.

Berichte wie die ARD Dokumentation schaden dem Spitzensport nachhaltig. Daher wird vordergründig an der Stigmatisierung von Doping durch die Funktionsträger des Spitzensports festgehalten. Doch dürften auch diese die „systematische Dopingfalle“ im Spitzensport kennen.

Der Sport feiert sich für seine Prinzipien: Chancengleichheit, Wettkampf, Leistungs- und Rekordstreben. Mit dem wissenschaftlich-medizinischem Fortschritt ergeben sich nun ungeahnte Möglichkeiten die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit immer weiter hinaus zu schieben. Doping ist dabei die konsequente Fortführung des Leistungs-und Rekordimperativs.

Gugutzers These lautet nun: Die Legitimationskrise des Spitzensports ist bedingt durch die Aufrechterhaltung einer Natürlichkeitsfiktion, der Abgrenzung zwischen dem natürlichen, nicht manipulierten Athletenkörper (Natur) und dem gedopten Athletenkörper (Gesellschaft).

„Weil es der interne Sinn des Sports ist, dass sich in ihm Athleten mit ihren verschiedenen natürlichen individuellen Anlagen messen, verstößt Doping gegen ihn, weil die Einnahme unerlaubter Substanzen die natürliche Individualität als Voraussetzung seiner gelingenden Momente zerstört“, heißt es etwa im Lexikon des Sports.

Gugutzers Argument geht so: der Sport hält an der Idee fest, dass es möglich sei, zwischen dem natürlichen, nicht-manipulierten Körper einerseits und dem gedopten (gesellschaftlich hergestellten) Körper andererseits eine klare Trennlinie zu ziehen. Es handele sich deshalb um eine Fiktion, weil die Modellierung der Körpernatur im Spitzensport auch unabhängig von Dopingmitteln und –praktiken längst vollzogen sei.

In Form von Nahrungsergänzungsmitteln, therapeutisch angewandten Medikamenten und Techniken, Training etc. sei die wissenschaftlich-technologisch-pharmakologische Manipulation des Athletenkörpers eine Selbstverständlichkeit, die auch gesellschaftlich legitimiert werde. Doping sei nur eine weitere, wenngleich illegitime Variante dieser Entgrenzung von Natur und Gesellschaft.

Die Ambivalenz des Spitzensports besteht darin einerseits dem Leistungs-und Rekordstreben zu huldigen und andererseits vehement ein Natürlichkeitspostulat zu vertreten. Im Folgenden wird dies an Hand der Grenzwertproblematik und dem Gendoping weiter ausgeführt.

Grenzwerte die soziale Konstruktion „natürlicher“ Körper

Grenzwerte sind von Medizinern und Biochemikern festgelegte Werte, die zum Beispiel bestimmen welcher Testosteron/Epitestosteron-Quotient, Hämatokrit- oder Nandrolonwert „natürlich“ ist und welcher nicht. Die Ausgangsfrage lautet: Ist der technologisch nachgewiesene Wert durch körpereigene Prozesse (endogene) oder körperfremde (exogene) Mittel und Methoden zu Stande gekommen?

Die Grenzwerte selbst sind jedoch keine Werte, die aus der „Natur“ des menschlichen Körpers schlicht abgelesen werden können, sondern Grenzwerte sind von Menschen definiert und insofern soziale Konstruktionen.

Grenzwerte sind immer auch politische Entscheidungen: „Die Hämatokritwerte der Ostafrikanischen Läuferinnen und Läufer liegen weit oberhalb der im Radrennsport festgelegten Grenze. Wollte man dieselbe Marke nun in der Leichtathletik einführen, müsste man die meisten Weltrekordhalter des letzten Jahrzehnts ausschließen. Seit es keine prominenten kolumbianischen Radrennfahrer mehr gibt, kann sich der Radsportverband diese Grenzwerte erlauben, ohne sich dem Vorwurf der Diskriminierung aussetzen zu müssen.

Gugutzer stellt nun die Behauptung auf, dass es bei der Festlegung von Grenzwerten gar nicht um die Gesundheit der Athleten gehe, sondern schlicht um die Abgrenzung von „Natürlichem“ und „Unnatürlichem“

Eine ungewollte Folge von Grenzwerten ist die Möglichkeit, sich gezielt an diese heran zu dopen. So fassen viele Radsportler den Hämatokritwert von 50 als Aufforderung zum EPO-Doping auf und gehen davon aus, dass man als Sportler mit einem niedrigeren natürlichen Wert das Recht habe, sich an den Grenzwert heran zu dopen. Folglich kann es vorkommen, dass sportliche Leistungen als „natürlich“ klassifiziert werden, obwohl sie mit künstlichen Mitteln erbracht wurden.

Gendoping

Gendoping bezeichnet die Modulation der Genaktivität mit Hilfe von gen- und zelltherapeutischen Mitteln oder mit pharmakologischen Verfahren und Substanzen um die sportliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Gendoping kann in den Bereichen Muskelaufbau, Sauerstoffversorgung und Energiebereitstellung für den Körper ansetzen.

Gendoping stellt den Sport vor neue Herausforderungen der Nachweisbarkeit. Es wird nun noch schwieriger analytisch zwischen körpereigen und körperfremd hergestellten Substanzen zu unterscheiden.

Denn alle Methoden des Gendopings zielen vermutlich darauf ab, das körpereigene Muskelwachstum auf genetischer Ebene zu stimulieren und/oder die körpereigene Produktion leistungsfördernder Stoffe (wie Testosteron, EPO oder Wachstumshormone) anzuregen und zu steigern, anstatt die Substanzen von außen zuzuführen.

Das heißt letztendlich nichts anderes als das es keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür gibt zwischen der „natürlichen“ und „manipuliert“ erzielten Leistungen zu unterscheiden.

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Lösung des Dopingproblems – Doping freigeben?

Das Sportssystem versucht laut Gugutzer die Dopingproblematik mit der Aufforderung eines „mehr desselben“ zu lösen. Das heißt mehr Kontrollen in Training und Wettkampf, mehr pädagogische Maßnahmen und Aufklärungskampagnen, mehr wissenschaftliche Forschung, schärfere Gesetze, höhere Bestrafungen und härtere persönliche Stigmatisierung.

Er lehnt diese Praxis vehement ab, da sie seiner Meinung nach für den Sportler einen Aufforderungscharakter darstelle selbst zu dopen, da suggeriert werde das Doping weitverbreitet sei. Der Sportler würde also allein schon deswegen dopen um nicht in Nachteil zu geraten (sog. „defensives Doping“).

Zudem würde der Ansatz nicht funktionieren, weil Doping ein globales Phänomen sei und die negative Einstellung zu Doping, sowie die Maßnahmen zur Dopingbekämpfung (z.B. Trainingskontrollen) nicht in allen Ländern gleichermaßen praktiziert würden.

Gugutzer schlägt stattdessen einen Ansatz des „weniger desselben“ vor. Er behauptet, dass erst die öffentlichen Diskurse, in denen Doping als Problem wahrgenommen und definiert würden, das Dopingproblem hervorgebracht hätten und es weiter am Leben halten würden.

Die Lösung des Problems sollte daher auf der Ebene des Redens über Doping ansetzen, anstatt zu versuchen neue Systemstrukturen (Gesetze, Dopinglabore) zu installieren. Sportfunktionäre, -Politiker und – Journalisten sollten weniger über Doping Reden. Die Beschwörungen des „sauberen“ Spitzensports seien einzustellen, denn es gab nie einen „sauberen“ Spitzensport und es wird nie einen geben.

Teure Anti-Doping Kampagnen seien zurückzuschrauben und stattdessen sollte mehr Geld in die Herstellung von Transparenz im Spitzensport investieren werden.

Konkrete Vorschläge sehen wie folgt aus:

  1. Dopingverbot altersspezifisch begrenzen
  2. nur solche Dopingmethoden und -substanzen verbieten, die nachweislich gesundheitsschädlich sind,
  3. komplette Dopingfreigabe,
  4. kontrollierte Freigabe des Dopings mit einem obligatorischen Medikamentenpass.

Kritik der Dopingfreigabe

Polemisch zusammengefasst lautet Gugutzers Vorschlag wie folgt: Wir haben ein Dopingproblem, das wir mit den erprobten Methoden nicht lösen können. Also lösen wir das Problem dadurch, dass wir

  1. a) nicht mehr darüber Reden und
  2. b) die Regularien so ändern, dass das was vorher Doping war nun kein Doping mehr ist.

Gugutzers Position funktioniert aber nur deshalb, weil in seiner Argumentation die Gesundheit der Sportler nicht auf taucht. Grenzwerte haben in seiner Logik nicht die Funktion die Gesundheit der Athleten zu schützen, sondern dienen lediglich zur Aufrechterhaltung des „Natürlichkeitsmythos“.

Sicherlich hat Gugutzer Recht darin die Idee der Natürlichkeit des Sportlerkörpers zu problematisieren in dem er zeigt, dass es keine aus der Natur ableitbare Abgrenzung zwischen „natürlichem“ und „manipulierten“ Körper gibt.

Er kann jedoch Training, Nahrungsergänzungsmittel und Blutdoping nur deshalb auf dieselbe Skala setzen, weil er sie unter dem Aspekt “natürlich“ vs. „gesellschaftlich“ statt „gesund“ vs. „ungesund“ betrachtet.

Wenn man Gugutzers Artikel gelesen hat scheint es man müsse nochmal deutlich auf das eigentlich Selbstverständliche hinweisen: Doping kann in vielerlei Hinsicht zu physischen und psychischen Krankheiten und dauerhaften Schädigungen führen!

Zweiter Punkt ist die Chancengleichheit. Hier wird behauptet, dass wenn nur alle berechtigt wären zu dopen, die Chancengleichheit schon wieder hergestellt wäre. Dies verkennt aber zwei Probleme:

  1. Doping kostet Geld. Je aufwendiger die medizinische Betreuung und Manipulation des Körpers mittels Dopingsubstanzen, desto teurer wird der Spaß. Das heißt natürlich, dass gerade die Sportler, die über sportliche Leistungen und Sponsorenverträge bereits hohe Einnahmen generieren, in der Position sind Ihre Körper optimal zu tunen. Da nicht alle Sportler gleichermaßen aus dem Zauberpool der medizinischen Welt schöpfen können, wird die Chancenungleiheit sogar noch verstärkt und in keinem Fall eliminiert.
  2. Viel wichtiger aber ist das hier per definitionem Chancengleichheit auf den Bereich der Sportler begrenzt wird, die bereit sind zu dopen. Sportler die nicht bereit sind zu dopen werden gar nicht mehr der zu betrachtenden Kategorie zugeordnet und damit auch nicht als benachteiligt klassifiziert. Es ist leicht sich vorzustellen wohin das führt: Nur noch diejenigen Nachwuchssportler, die bereit sind zu dopen und die damit verbunden gesundheitlichen Risiken einzugehen werden den Sprung in den professionellen Sport wagen können. Die Sportler können also qua Regel nicht mehr frei entscheiden, ob sie die Risiken zu dopen eingehen wollen oder nicht.

Einmal angenommen man würde nur solche Dopingmethoden und –substanzen verbieten, welche nachweislich gesundheitsschädlich sind. Was würde das bedeuten? Zum einen ist es eine explizite Aufforderung an alle Athleten diese Substanzen zu nehmen, allein schon um nicht in Nachteil zu geraten.

Zum anderen würde aber doch dasselbe Spiel wieder von vorne los gehen: Clevere Athleten mit einem entsprechend motivierten, ausgerüsteten und vernetzten Umfeld würden weiterhin verbotene Dopingsubstanzen und Praktiken verwenden um sich einen Vorteil zu verschaffen. Dasselbe gilt für den Vorschlag einer kontrollierten Freigabe des Dopings mit einem obligatorischen Medikamentenpass. Man hätte also keinerlei Verbesserung geschweige denn Lösung des Problems erzielt.

Dopingbekämpfung als Konstellationsmanagement

Doping wird in den Medien gerne als das Fehlverhalten einzelner Sportler dargestellt. Diese Darstellung ist grob falsch und verstärkt das Dopingphänomen noch, da sich die verantwortlichen Akteure klammheimlich aus der Verantwortung stehlen können. Doping fällt nicht vom Himmel. Doping geschieht in einem Umfeld, welches die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Sportler Pro-Doping entscheidet hochgradig begünstigt.

Um die Dopingproblematik anzupacken sind also zunächst die beteiligten Akteure zu benennen. Diese wären: das Sportpublikum, die Massenmedien, die Wirtschaft und die Politik – und zwar in genau dieser Reihenfolge.

  1. Das Sportpublikum interessiert sich vor allem für sportliche Höchstleistungen, Rekorde und spannenden Wettkämpfe. Anerkennung wird nach der Logik des Leistungssports nach dem Prinzip Sieg/Niederlage verteilt.
  2. Durch das Interesse des Publikums springen nun die Massenmedien auf den Zug auf und berichten über die Sportwettkämpfe. Doping ist für die Medienberichterstattung nur insoweit ein Thema, als es als Fehlverhalten einzelner Personen zuzuordnen ist. Die abstrakte Struktur die hinter der Dopingproblematik steckt wird nicht aufgegriffen, da sie sich einer Personenzuordnung und Moralisierung verweigert.
  3. Durch die Medienberichterstattung, insb. das Fernsehen, wird der Sport interessant für die Wirtschaft (z.B. in Form von Sponsoring). Sportveranstalter, Sportrechtevermarkter und viele weiter Akteure nutzen das Publikumsinteresse und die Medienberichterstattung um hervorragende „Sportprodukte“ zu produzieren.
  4. Die Politik nutzt sportliche Erfolge zur Stärkung des nationalen Wir-Gefühls. Zu dem finanziert die Politik den Sport über Fördergelder, die wiederum an bestimmte Erwartungen gekoppelt sind. Das Bundesinnenministerium (BMI) redet mit seinem Minister de Maizière nur ständig von Medaillen und wenn Sportarten diese nicht bringen, wird die Förderung gekappt. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) nickt in aller Regel mehr ab. Kein Wunder, das BMI ist schließlich der Hauptgeldgeber des DOSB. Was zählt sind Medaillen, denn nur diese symbolisieren vor aller Welt die Größe der Sportnation Deutschland.

Zusammengefasst: An dem Dopingproblem sind wir alle beteiligt, daher können wir dieses auch nur alle gemeinsam lösen! Die Lösung besteht aber nicht in der Dopingfreigabe, sondern in einer Modifikation der Anreizstrukturen, die es für alle an dem Dopingsystem profitierenden weniger attraktiv macht so weiter zu machen wie gehabt. Denn letztendlich delegitimiert sich der Sport durch Doping selbst und zwar zum Nachteil aller beteiligten Akteure.

Quellen:

  1. Robert Gugutzer: „Doping im Spitzensport der reflexiven Moderne“. Sport und Gesellschaft – Sport and Society Jg. 6 (2009), Heft 1. S. 3-29.
  2. Karl-Heinrich Bette: „Sportsoziologische Aufklärung – Studien zum Sport der modernen Gesellschaft“, Bielefeld: transcript Verlag (2011).
  3. Karl-Heinrich Bette & Uwe Schimank: „Die Dopingfalle“, Bielefeld: transcript Verlag (2006).

 

 

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Veröffentlich am: November 22, 2016